21. April 2024 SeminarCoaching

Vom Verdrängen zur Heilung: Der Umgang mit Scham und Schuld

In der zwischenmenschlichen Kommunikation spielt Scham eine wichtige Rolle und dient uns als Schlüssel zu unserem Inneren. Ebenso wie Wut und Aggression basieren Scham und Schuld auf einer Denkweise, die Menschen in den vergangenen 8000 Jahren bewusst gefördert haben. Scham und Schuld sind Resultate des Dominanzsystems, in dem wir sozialisiert wurden.

Unter Dominanzsystem verstehe ich in diesem Fall ein Denkmuster von «richtig/falsch», «passend/unpassend» oder «normal/anormal». Mit Hilfe solcher Gegensatzpaare vergleichst du dich mit anderen und kategorisierst. Dadurch fällt es dir leicht zu entscheiden, wer belohnt und wer bestraft wird.

Eine solche antagonistische Sprache unterstützte ursprünglich eine hierarchische Gesellschaftsordnung mit einer Person an der Spitze (wie König, Kaiser, Zar oder ein geistlicher Herrscher). Scham und Schuld leben davon, dass du von dir denkst, du seist «schlecht» oder hättest etwas «falsch» gemacht. Die inneren Wölfe werden aktiviert.

Welches Denkmuster steht hinter Scham und Schuld?

Bleiben wir noch etwas bei den Denkmustern. Ich finde, es lohnt sich, einen Blick hinter die Kulissen von Scham und Schuld zu werfen. Hier kommen nämlich die Wurzelwölfe mit ins Spiel: Mit dem Begriff «Wurzelwölfe» habe ich das Konzept der Wolfssprache von Marshall B. Rosenberg weiterentwickelt. Als Wurzelwölfe bezeichne ich unbewusste Glaubenssätze, die uns blockieren. Dieser Aspekt ist über die Jahre zu meinem Fachgebiet geworden.
Ein Beispiel: Wenn du dich selbst als perfektionistisch bezeichnest, stehst du unter dem Druck, immer alles richtig machen zu müssen. So verwundert es nicht, dass du dich bei einem Fehler (der schlicht menschlich ist) beschämt oder schuldig fühlst. Wenn du deine Handlungen negativ bewertest und dir für unerwünschte Ergebnisse die Schuld gibst, spielt auch eine gewisse Strenge dir selbst gegenüber mit hinein. Oder du übernimmst auch in Situationen, auf die du objektiv betrachtet keinerlei Einfluss hast, Verantwortung dafür, wenn etwas nicht wunschgemäss läuft.
Vielfach steckt dahinter wieder das Schwarz-Weiss-Denken in Gegensatzpaaren: Du empfindest dich also entweder als erfolgreich oder als gescheitert – Zwischentöne gibt es nicht. Das alles kann zu einem Teufelskreis von Schuld und Scham führen.

Wie Scham dein Sozialverhalten beeinflusst

In sozialwissenschaftlichen Studien haben Forschende festgestellt, dass Scham sich auf das Verhalten und die Beziehungen von Menschen im Miteinander auswirkt – und nicht nur auf das Miteinander, sondern auch auf das Wohlbefinden in einer Gruppe.
Ich bekomme immer wieder die Rückmeldung, dass jemand gerne am Seminar teilnehmen möchte, jedoch Angst hat, in eine Gruppe mit Unbekannten zu kommen. Die Angst, negativ bewertet oder abgelehnt zu werden, führt zu einem Vermeidungsverhalten mit sozialem Rückzug, Selbstisolierung und Distanzierung. Wenn du zögerst, dich zu öffnen oder verletzlich zu zeigen, sind Einsamkeit und fehlende Weiterentwicklung mögliche Folgen.
In der Gruppe kommt noch die Gruppenkonformität hinzu: Wenn Scham aktiv ist, passt du dich der Mehrheit an – aus der Sorge heraus, mit deinen Überzeugungen oder Werten nicht «richtig» zu sein. Deshalb stellst du sie zugunsten der Gruppenzugehörigkeit hinten an.

Wie entsteht Scham?

Scham ist eine komplexe emotionale Reaktion. Scham entsteht, wenn du zum Beispiel denkst, für etwas, was du gesagt oder getan hast, bei deinem Gegenüber auf Missbilligung zu stossen; oder wenn du glaubst, abgelehnt zu werden oder dich lächerlich gemacht zu haben. Kurz: Du fühlst Scham, wenn du bewertet wirst. Begleitet wird Scham von einem Gefühl der Peinlichkeit, des Unbehagens oder der Unzulänglichkeit und dem Wunsch, am liebsten in den Erdboden zu versinken.

Die Ursachen für Scham können vielfältig sein. Zum einen kannst du denken, soziale Normen oder Erwartungen nicht bedient zu haben, beispielsweise in puncto Verhalten, Aussehen oder Leistung. Zum anderen spielt auch in diesem Bereich dein Selbstwertgefühl eine wichtige Rolle. Ohne ausreichendes Selbstwertgefühl läufst du Gefahr, dass sich nach Kritik – egal ob Selbstkritik oder Kritik von anderen – Unsicherheit und Scham einstellen. Schmerzhafte frühere Erfahrungen, vielleicht aus der Kindheit, können hier eine verstärkende Rolle spielen. Dadurch werden bestimmte Situationen besonders schamvoll und belastend für dich.

Das alles bedeutet nicht, dass Scham per se schlecht ist: Ein angemessenes Schamgefühl hilft dir, Handlungen zu reflektieren. Unkontrollierte Scham kann sich allerdings langfristig schädlich auf das ohnehin schon fragile Selbstwertgefühl auswirken und dadurch die psychische Gesundheit beeinträchtigen.
Ich erlebe in Gesprächen immer wieder, dass es in manchen Menschen Schamgefühle auslöst, wenn sie denken, bestimmten Erwartungen und Normen nicht gerecht zu werden – sei es in Bezug auf Karriere, Beziehungen, Familienleben oder andere Aspekte des Lebens. Es geht jeweils darum, nicht erfolgreich zu sein oder den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen.
Wenn du dein Leben mit dem Leben anderer vergleichst und zu dem Schluss kommst, das Leben der anderen ist erfolgreicher oder glücklicher, dann wähnst du hinterherzuhinken oder zu versagen. Die Angst vor der Bewertung oder dem Urteil anderer sitzt tief.

7 klassische Auslöser für Schamgefühle

Der Klassiker unter den «Schamweckern» ist die unaufgeräumte Wohnung, wenn überraschend Besuch kommt. Weitere mögliche Schamauslöser sind:

1. Vergleiche («Ich bin viel langsamer als mein Arbeitskollege.»)
2. Abhängigkeit («Ohne ihn/sie bin ich verloren.»)
3. Wettbewerb («Im Leben gibt es Gewinner und Verlierer.»)
4. Aussehen («Hoffentlich bemerkt niemand, wie dick ich geworden bin.»)
5. Sex («Ich bin nicht sexy genug.»)
6. Sehen und gesehen werden («Was denken die Leute wohl über mich?»)
7. Nähe («Rieche ich auch wirklich gut?»)

Laut Studien ist die Scham dann am grössten, wenn wir vorher wütend waren. Der Erziehungswissenschaftler Alfie Kohn fand bei Eltern folgendes Muster: «Ich erlaube meinen Kindern alles, bis ich sie nicht mehr ausstehen kann. Dann werde ich so autoritär, dass ich mich selbst nicht mehr ausstehen kann.»

Diese Form der Selbstablehnung kommt daher, dass, nachdem die Wut abgeklungen ist, sich die Scham über deinen Wutausbruch und dein Verhalten Bahn bricht: Vielleicht hast du Dinge gesagt oder getan, die du im Nachhinein als unangemessen und peinlich bewertest, oder du denkst, dass andere dies tun. Wut hat die Eigenschaft, dass du die Kontrolle verlierst und impulsiv wirst und dadurch Handlungen begehst, die du normalerweise vermeiden würdest. Das kann im Nachgang beschämend sein, wobei die Stärke der Scham vom jeweiligen Kontext und dem Ausmass deiner «Entgleisung» abhängt.

Schuld und Scham werden am liebsten verdrängt

Wenn du beim Versuch, in Verbindung und Kontakt zu kommen, wie gelähmt bist, liegt das an bestimmten Gefühlen, die dich im Miteinander behindern. Es ist daher verständlich, dass viele Menschen alles tun, um diesen Gefühlen, bei denen du dir klein, dumm und unwissend vorkommst, auszuweichen – das ist zwar verständlich, aber kontraproduktiv. Denn das Verdrängen, Vertuschen oder Unterdrücken der Scham macht es dir umso schwerer, die Scham zu würdigen und entsprechend mit ihr umzugehen.

Versuche niemals, Scham und Schuld auszuweichen.

Dr. Marshall B. Rosenberg

Die verdrängten Gefühle verschwinden aber nicht, sondern lagern im emotionalen Seelenkeller tief in deinem Inneren und verstärken das Denken, nicht gut/schön/erfolgreich und so weiter zu sein. Je mehr du versuchst, deine Scham zu verstecken, desto mehr Macht bekommt sie über dich. Bei diesem Kampf mit der Scham und den Versuchen, sie loszuwerden oder zu verstecken, kommt es mitunter vor, dass du noch mehr Dinge tust, für die du dich hinterher schämst. Dadurch gewinnt die Scham an Kraft.

Mit GFK zu deinen Gefühlen stehen, anstatt sie zu verdrängen

Das Verdrängen von Gefühlen ist langfristig problematisch, denn es geht zulasten der emotionalen und physischen Gesundheit. Ich rate davon aus eigener Erfahrung dringend ab. Als hilfreicher erachte ich es, wenn du dich mit Schamgefühlen auseinandersetzt und gesunde Wege findest, mit ihnen umzugehen. Für mich war Gewaltfreie Kommunikation der Gamechanger.
Was ich auf keinen Fall möchte, ist, noch mehr Scham auslösen, weil du gerade erkannt hast, dass du bis jetzt deine Gefühle verdrängt hast!
Vielmehr möchte ich, dass du das Vermeiden und Unterdrücken als einen Schutzmechanismus erkennst: Emotionen können überwältigend und unangenehm sein, da willst du nicht als schwach dastehen und verbirgst lieber deine Gefühle. Nach meiner Erfahrung steckt oft ein Wurzelwolf dahinter, der dir einflüstert: «Ich darf nicht zeigen, wie es mir wirklich geht!»
Mit Hilfe der GFK hast du die Möglichkeit, diese Zustände von Scham, Schuld oder Wut in produktive Emotionen umzuwandeln, die es dir erleichtern, in Kontakt mit den dahinterstehenden Bedürfnissen zu treten. Dies können Bedürfnisse nach Integrität, Respekt, Akzeptanz, Angenommensein oder Gemeinschaft sein. Statt unangenehme Gefühle unterdrücken zu wollen, kann dir die Scham als ein Warnlämpchen dafür dienen, dass diese Bedürfnisse befriedigt werden wollen.

Wenn du das Unbehagen wahrnehmen kannst, das mit der Scham einhergeht, verstehst du, dass du etwas getan oder gesagt hast, was deinen eigenen Werten nicht zuträglich ist. Du denkst nicht mehr, dass du dich blamiert hast und es nicht mehr wert seist, geliebt zu werden.

Nähere dich der Scham für Selbstannahme und Selbstrespekt

Dein Ziel ist, dich mit Empathie und Akzeptanz der eigenen Scham zu nähern und dich mit ihr anzufreunden, um daraus Selbstannahme und Selbstrespekt zu schöpfen. Dies gelingt zum Beispiel, indem du dich in deiner Verletzlichkeit öffnest und anderen von deiner Scham berichtest. Wenn du dich auf diese Weise mit deinen Fehlern offenbarst, kann dies verunsichern und unangenehm für dich sein – du glaubst, nur dann geliebt und akzeptiert zu werden, wenn du perfekt bist. Sich verletzlich zu öffnen, kann jedoch Verbindung schaffen und auf andere mutig und authentisch wirken.

Setze dich mit deinen eigenen Schamthemen auseinander

Im Coaching geht es oft um unangenehme Gefühle und Vorbehalte, sich authentisch zu öffnen. Wenn du der Scham mit Empathie begegnest, erlebst du, dass du sie offen zeigen kannst und vom Gegenüber damit angenommen wirst, ohne dass es zu Rückzug oder Peinlichkeiten kommt. Wenn du anderen Menschen empathisch zuhören willst, hilft es, wenn du dich zuerst mit den eigenen Schamthemen auseinandersetzt.
Diese Auseinandersetzung erfordert von dir Offenheit zur Selbstreflexion und eine Auseinandersetzung mit deinen eigenen Denkmustern, also den Wurzelwölfen. Ganz wichtig ist auch Unterstützung von anderen. Im ersten Schritt kannst du herausfinden:
• Welche Situationen, Gedanken, Selbstgespräche, Selbstkritik oder Verhaltensweisen lösen Scham und Schuld bei dir aus?
• Welche Wurzelwölfe sind dann aktiv?
Das ist die Quelle! Diese Identifizierung kann dir schon helfen, die Scham und ihre Trigger besser zu verstehen. Es geht darum, dir selbst Mitgefühl entgegenzubringen, liebevoller und nachsichtiger mit dir selbst zu sein. Wir sind nicht perfekt und Fehler sind zutiefst menschlich.

Warum es für dich so wertvoll ist, deiner Scham empathisch zu begegnen

Ich selbst empfand es als sehr erleichternd, als ich begonnen habe, mich mit Scham und Schuld auseinanderzusetzen, um sie zu bewältigen. Es ist jedoch ein fortlaufender Prozess, für den du Geduld brauchst; ein Prozess, in welchem immer mehr Verständnis und vor allem Selbstverständnis stattfindet. Dadurch wirst du handlungsfreier, offener und das stärkt deinen Selbstwert. Während dieses Prozesses entwickelst du dich persönlich weiter und erlebst immer mehr deine Selbstregulierung und emotionale Heilung.

Wenn du dich mit deiner Scham und deinen Schuldgefühlen auseinandersetzt und sie anerkennst, ist das insgesamt lohnend und befreiend!

Intensiv widmen wir uns diesem Thema im Modul 4.

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